Minnesang.com Dr. Lothar Jahn Guderoder Weg 6 34369 Hofgeismar 05671-925355 E-mail an Minnesang.com SEQUENTIAS HILDEGARD-ALBEN (Auswahl) Die kommende CD: |
BEGEISTERTE TEILHABE AN SEQUENTIAS LEBENSWERK Norbert Rodenkirchen zur Vollendung der Hildegard-Einspielung Norbert Rodenkirchen sorgte im Jahre 2012 mit seinem "Rattenfänger"-Projekt für Erstaunen. In guter Erinnerung ist auch seine Einspielung des "Taugendhortes" gemeinsam mit Sabine Lutzenberger. In den letzten Jahren hat er auch immer wieder mit dem Weltklasse-Ensemble Sequentia zusammen gearbeitet. Er war auch bei der Vollendung des ambitioniertesten Projektes von Sequentia dabei: der Einspielung von Hildegards Gesamtwerk. Aus diesem Anlass sprach Minnesang.com mit dem vielseitigen Musiker. Lieber Norbert, du bist voller Stolz dass du bei der Vollendung von Barbara Thornton´s "Lebenswerk" dabei sein durftest, der Einspielung des kompositorischen Gesamtwerkes von Hildegard von Bingen durch das Ensemble Sequentia unter der Leitung von Benjamin Bagby. Es ist vollbracht - im Mai soll die noch fehlende CD erscheinen, im Dezember die Gesamt-CD-Box. Wie lief die letzte Etappe? Sequentia hat im letzten Herbst die neue CD mit den letzten fehlenden Stücken in Belgien aufgenommen. Benjamin Bagby hat ein wunderbares Ensemble zusammengestellt, sowohl mit einigen herausragenden Sängerinnen des früheren Ensembles als auch mit überaus brillanten neuen Kolleginnen. Ein Highlight ist, dass Lena Susanne Norin aus der Besetzung der 80er und 90er Jahre mit dabei ist. Auch Agnethe Christensen ist Sequentia schon sehr lange verbunden, es singt aber z.B. auch Sabine Lutzenberger zum erstenmal bei einem Sequentia Projekt mit. Von der etwas jüngeren Generation sind Christine Mothes, Lydia Brotherton, Elodie Mourot und Esther Labourdette mit dabei. Sowohl die Einzelstimmen als auch der Gesamtklang dieses neuen, unvergleichlichen Vokalensembles haben mich bei den Aufnahmen enorm fasziniert. Ich habe in Bezug auf mittelalterlichen Gesang wirklich schon viel gehört und erlebt, aber dieser Klang ist etwas ganz Besonderes. Das Projekt war ja zunächst ganz dicht mit Barbara Thornton verbunden, die 1998 verstarb. Bedeutete ihr Tod keinen Bruch für die Arbeit an der Musik? Mir würden direkt spontan 20 Leute einfallen, die befugter wären, hierüber zu sprechen, allen voran natürlich Benjamin Bagby, der ja auch in den Jahrzehnten bis 1998 die Hildegard-Projekte zusammen mit Barbara Thornton geleitet und gestaltet hat. Zusätzlich möchte ich mir nicht anmaßen, auch nur den Eindruck zu erwecken, im Namen von Sequentia zu sprechen. Ich weiß, dass sehr viele Kolleginnen und Kollegen Barbara heute noch täglich vermissen. Für mich ist es unmöglich, diese Frage zu beantworten, da viele persönliche und künstlerische Aspekte berührt werden. Barbara Thornton war ein ganz besonderer Mensch. Dennoch versuche ich es mal aus rein musikalischer Sicht: Für die Interpretation der Musik Hildegards ist der Verlust natürlich immer noch spürbar, da es – auch für andere Musikerinnen und Musiker - unmöglich war, dort weiterzumachen, wo Barbara Thornton zusammen mit Benjamin Bagby aufgehört hat: nämlich ein großes Ensemble aus international hochrangigen Sängerinnen professionell zusammenzuhalten, welches sich dieser Musik ohne Kompromisse auf höchstem künstlerischen Niveau widmete. In diesem Sinne ist aber die Vervollständigung der Gesamtaufnahme durch Sequentia auch als eine künstlerische Verpflichtung zu sehen und somit auch als eine besondere Hommage. Was genau war Deine Aufgabe bei den Aufnahmen? Meine Rolle war klein, aber fein: als Produktionsassistent und künstlerischer Berater war ich das kommunikative Bindeglied zwischen dem Tonmeister und Benjamin Bagby, dem musikalischen Leiter. Eine solche Funktion hatte ich schon öfters für verschiedenste Rundfunk- und CD-Aufnahmen inne. Ferner habe ich bei zwei Stücken sparsame Begleitungen gespielt. Es wird übrigens eine fast vokale CD; nur bei sehr wenigen Tracks gibt es dezentes instrumentales Beiwerk durch Harfe und Flöte. Der Fokus lag auf großen Gesang ohne Schnickschnack. Wo siehst du persönlich die besonderen Qualitäten von Hildegards Musik? Hildegards Musik ist nach meiner Überzeugung und Erfahrung eine äußerst intensive Anverwandlung des auch damals schon jahrhundertelang überlieferten gregorianischen Melos. Ihr Zugang zu diesem Opus Magnum der gregorianischen Gesänge mündete bei Hildegard in einen extrem melismatischen Gesangsstil, dem man anmerkt, dass er durch jahrelange sängerische Praxis im Kloster geschliffen und ausgefeilt worden ist. Alleine dies macht Hildegard von Bingen zu einer herausragenden Gestalt der Musikgeschichte. Das vokal Ausschweifende, die virtuos ekstatische Art zu singen, die Überwindung des normalerweise bei Gregorianik eher eingeschränkten Tonumfangs und Hildegards unkonventioneller Umgang mit erweiterten und bisweilen kombinierten mittelalterlichen Modi erfordert heute einen besonderen künstlerischen Zugang, der diese Musik in seinem ganzen Klangreichtum ernst nimmt. Das Ensemble Sequentia war schon immer ein Garant dafür, diesen Reichtum in allen seinen Facetten darzustellen und dessen Tiefe auf ergreifende Art und Weise auszuloten. Schon als Student war ich von den ersten Einspielungen der Musik Hildegards durch Sequentia begeistert. Das war lange, bevor ich 1996 Mitglied des Ensembles wurde. Insofern freue ich mich auch persönlich, dass sich hier ein Kreis über Jahrzehnte hinweg schließt. Manche Musikwissenschaftler nehmen Hildegard von Bingen nicht wirklich ernst als Komponistin, betrachten ihre Musik gar als gut gemeinten Dilettantismus, als Zufallsprodukt. Was würdest du entgegnen? In dieser für mich nicht akzeptablen Aussage schwingt eine negative Sichtweise auf ein wichtiges kreatives Spannungsfeld mit, welches viele musikalische Stile in verschiedensten Epochen geprägt hat: das Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zwischen einer musikalischen Praxis „super librum“ und einer nachträglichen Aufzeichnung in musikalischer Notation. Fast alle Gesänge des Mittelalters sind nicht am Schreibtisch entstanden, sondern in der unmittelbaren Praxis und erst später in Handschriften niedergelegt worden. Ich persönlich meine, genug Anzeichen dafür zu finden, dass Improvisation wohl tatsächlich bei der Entstehung der Hildegard-Gesänge eine gewisse Rolle spielte, jedoch nicht bei der Niederschrift, welche die Ergebnisse dieses improvisatorischen Prozess auf sehr sorgfältige Art und Weise in überaus akkurater Neumenschrift herauskristallisierte. Die heutigen Begriffe Improvisation und Komposition sind jedoch nicht geeignet, den Schaffensprozess einer solchen Musik angemessen zu beschreiben. Mich interessiert gar nicht so sehr, wer konkret die Neumen z.B. im Riesenkodex oder in Dendermonde letztendlich aufgeschrieben hat, da es so gut wie ausgeschlossen ist, dass diese Musik aus den Handschriften direkt abgesungen wurde. Ob es Hildegard selber war, was eher unwahrscheinlich ist, oder eine Spezialistin in ihrem Konvent oder gar ein externer Schreiber: Ist es wirklich wichtig, das zu wissen? Die Nonnen konnten das Repertoire mit Sicherheit auswendig singen, sonst hätten wir viel mehr Gebrauchshandschriften. Natürlich würde auch ich gerne wissen, ob die Neumen in den Handschriften wirklich genau oder aber nur ungefähr die visionären Gesänge aus der klingenden Praxis widergeben. Fakt ist jedoch, dass die notierten Gesänge hervorragend komponiert sind. Unendlich viele gekonnte kompositorische Details können bei dem, der sich ihnen ernsthaft widmet, höchste Bewunderung hervorrufen. Und sie sind hörbar, wenn sie zum Klingen gebracht werden. Man ist heute oft versucht, Hildegard im Sinne des 19. Jahrhunderts als Genie zu stilisieren, die all das, was unter ihrem Namen veröffentlicht wurde, auch selbst verfasst hat - durchaus im Sinne des Wagnerschen Gesamtkunstwerkes. Damit wird man ihrem Schaffen aber nicht gerecht. Hildegards Kloster war eine Werkstatt, in der ihre Visionen im Mittelpunkt standen. Viele brillante Mitstreiterinnen und wohl auch Volmar, der Priester-Sekretär, arbeiteten mit an der künstlerischen Ausführung der visionären Texte, der visionären Bilder und an den wohl zuerst in schriftloser, quasi improvisierter Form geschaffenen visionären Gesänge, die erst später aufgeschrieben wurden. Die Kunst und Kulturgeschichte ist übrigens voll von hervorragenden Beispielen solcher Werkstattzusammenhänge. Es ist ja z.B. bekannt, das Leonardo da Vinci vom Abendmahl nur den Jesuskopf komplett selber gemalt hat und den Rest von seinen Mitarbeitern und Schülern unter genauer Anleitung ausführen ließ. Wie siehst du Hildegard als Persönlichkeit? Der gerade zurückgetretene Papst hat sie ja im letzten Jahr endgültig in den Kreis der Heiligen und Kirchenlehrer aufgenommen. Können wir von Hildegard heute etwas lernen? Was ist dir fremd an Hildegard? Hildegard war eine sehr imposante Persönlichkeit, die das Denken des 12. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt hat. Natürlich können wir von ihr etwas lernen, z.B. wenn wir uns heute Fragen des ganzheitlichen Lebens widmen. Da hat sie viel angestoßen: vor allem in naturwissenschaftlichen Fragen, die u.a. mit der Ernährung zusammenhängen. Auch für die Kunst war sie prägend in der Form visionärer Äußerungen, welche sich sowohl in Texten, Bildern als auch in Klängen kristallisierten. Zu den theologischen Aspekten bei Hildegard kann ich wenig sagen. Da kennt sich der ehemalige Papst sicherlich besser aus. In Bezug auf die Heiligsprechung bin ich allerdings eher irritiert. Ein elitärer Grundzug bei Hildegard ist nämlich für mich ein Problem und macht es mir etwas schwer, sie auch als Mensch zu bewundern. Aus ihren Briefen erfahren wir, dass sie nur adlige und reiche Mädchen in ihr Kloster aufnahm und den Unterschied von Reich und Arm als gottgegeben ansah. Diese Haltung vertrat sie gegenüber kritisch anmerkenden Äbtistinnen anderer Klöster auf durchaus arrogant zu nennende Art und Weise. Das kann man keineswegs aus mittelalterlichen Grundanschauungen heraus verteidigen, denn auch die klösterlichen Armutsbewegungen nahmen ihren Anfang im Mittelalter. Welch ein Kontrast in der Armutsfrage zwischen Hildegard und Franziskus! Wird es neue Sequentia-Konzerte mit Hildegards Musik geben? Ja, es sind Konzerte geplant, beginnend im Januar 2014. Informationen darüber gibt es auf Sequentias website: www.sequentia.org Zum Abschluss noch ein Themenwechsel. Deine Rattenfänger-von-Hameln-CD wurde ja von der Kritik geradezu euphorisch aufgenommen, obwohl das ganze ja eigentlich eine auf den ersten Blick befremdliche Idee war. Hat dich das überrascht? Ja, hier war ja Befremdlichkeit (die Fremdheit des Pfeifers) sogar Teil des Themas. Die Fülle an internationaler Aufmerksamkeit hat mich überrascht und erfreut zugleich. Ich habe nämlich sehr viel Herzblut und Zeit in dieses Projekt investiert und fühle mich in meiner Arbeit bestätigt. Das Soloprogramm „Hameln Anno 1284 – auf den Spuren des Rattenfängers“ live zu spielen ist weiterhin eine der größten und intensivsten Erfahrungen, die ich auf der Bühne machen darf. Dafür bin ich dankbar. Wie geht es bei dir musikalisch weiter? Im Moment steht eine intensive Recherche zu Meister Frauenlobs Sangsprüchen an. Z.Z. wälze ich noch viele Bücher und transkribiere ferner die relativ wenigen verlässlichen Melodieformen der Frauenlobtöne aus den Originalhandschriften (vor allem aus Wien und Jena). Es ist ein neues Programm mit Sabine Lutzenberger im Duo geplant, die ersten Proben beginnen bald. Die CD mit den Frauenlob-Sangsprüchen wird das Nachfolgeprojekt zu unserem früheren Programm „Der Taugenhort“. Gerade im Moment bin ich dabei, von einigen Sprüchen Prosaübertragungen zu machen und bin begeistert, dass die ethisch moralischen Fragestellungen deutlich interessanter sind, als ich zuerst vermutete. Gestern habe ich für meine innere Motivation den Dalai-Lama-Test erfunden. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn man sich bei einem moralischen Spruch von Frauenlob in einem Gedankenexperiment vorstellt, der Dalai Lama hätte ihn letzte Woche auf facebook gepostet, dann wirkt der Spruch plötzlich viel zeitgemäßer und man ist sofort williger, sich auf die Denkweise einzulassen. Und tatsächlich hat Frauenlob in dieser Hinsicht – auch jenseits der rein weltlichen Minnethematik – Einiges zu bieten. Vielleicht war er ein zeitlos Weiser, der uns auch heute noch etwas zu sagen und zu singen hat. Denn immerhin sagte er: „Ich gebe der zyt ir wise unt wort“, quasi wie ein Seismograph. Und natürlich ist die Musik auch toll. Weitere Infos finden sich auf meiner website www.norbertrodenkirchen.de, die ich regelmäßig aktualisiere. Das Interview führte Dr. Lothar Jahn. Foto: Norbert Rodenkirchen |
Hildegard von Bingen, Miniatur
HILDEGARD VON BINGEN von Frank Wunderlich Hildegard wurde 1098 in Bermersheim (Rheinhessen) geboren. Sie war das zehnte Kind des Edelfreien Hildebert und seiner Frau Mechthild. Das Mädchen war schwächlich und kränkelnd, aber lebhaft und fröhlich, und das blieb sie ihr Leben lang. Schon als Kind zeigte sie ab dem fünften Lebensjahr visionäre Begabung und sah mehr als andere Menschen. Im Alter von acht oder neun wurde sie zur Erziehung der Reklusin Jutta von Sponheim (1090 – 1136) in deren Klause der Benediktiner-Abtei auf den nahe gelegenen Disibodenberg anvertraut und dort im Geist der Regel des Hl. Benedikt erzogen. Aus der Klause entstand eine Nonnengemeinschaft. Als Jutta, die Meisterin der Klause, 1136 starb, wurde Hildegard, zunächst gegen ihren Willen, als Nachfolgerin in der Leitung als Oberin (magistra) gewählt. Unter ihrer Leitung gewann der Konvent bald an Bedeutung und Größe. Hildegard befand sich fast immer im Wachzustand visionärer Schau: Sie schaute „den Schatten des lebendigen Lichtes, indem sie manchmal das „lebendige Licht“ erkannte“; eine Schau, in der ihr Ich zunichte wurde und nur der lebendige Gott sie hielt. In einer Vision erhielt sie, den Befehl zur Niederschrift. Der Mönch Volmar, ihr geistlicher Berater, begann 1141 mit der Aufzeichnung des „Scivias“ (Wisse die Wege). Es folgten weitere Schriften (insgesamt 13), auch naturwissenschaftliche und medizinische in späteren Jahren, sowie Hagiographien. Etwa 300 Briefe sind erhalten. Nach jahrelangem Ringen löste sie die Zugehörigkeit zur Abtei und betrieb ab 1147 eine Neugründung. Mit zwanzig Mitschwestern zog sie 1150 in das von ihr neu erbaute Kloster Rupertsberg bei Bingen. Am 1. Mai 1152 wurde die Klosterkirche vom Mainzer Erzbischof Heinrich eingeweiht. Um 1165 besiedelten Mitschwestern als Tochtergründung das damals leerstehende Kloster Eibingen auf der anderen Rheinseite oberhalb von Rüdesheim. Obwohl stets kränklich, reiste sie viel, predigte vor Klerus und Laien Umkehr und Buße, wobei weder die einen noch die anderen von ihrer Kritik verschont blieben. Sie war als Prophetin („prophetissa teutonica“), Ratgeberin und Schriftstellerin weithin bekannt und hochgeehrt, auch von Päpsten, Kaisern und Fürsten. Hildegard starb am 17. September 1179. Weil das angestrebte Heiligsprechungsverfahren versandete, wurde sie formal erst im Jahre 2012 durch Benedikt XVI. heilig gesprochen. Die musikalische auditio Hildegards ist fest verwurzelt in der Vorstellung eines von Gott geordneten Kosmos, in dem Mikro- wie Makrokosmos harmonisch miteinander verbunden sind. In diesem ordo caelestis hat alles seinen Platz. Als Seherin der mystischen Schau dessen, hat Hildegard unmittelbare Einsicht und versucht dem Göttlichen Ausdruck zu verleihen u.a. mit Hilfe der Musik, erschien ihr doch der Kosmos in der Audiovision als Klang. Ihre Dichtung diente zur Vermittlung dessen und fand sich letztendlich in komplexer Übertragung als musikalische Form wieder. Zur Genese dieser Gesänge: Zunächst hört Hildegard in der Gegenwart des lebendigen Lichtes (lux vivens) die himmlische Harmonie des geordneten Kosmos. Sie nennt diese armonia caelestis. Die Übersetzung der auditio überträgt sie in den menschlichen Erfahrungsbereich mit Hilfe ihrer Schreiber in die Immanenz des cantus durch schriftliche Fixierung der Melodie. So entsteht die symphonia, der menschliche Gesang. Hildegard versteht sich dabei als Medium bzw. Instrument der himmlischen Harmonie, nicht als Komponistin im modernen Sinne. Die Melodien zeigen eigenständige Kraft. Ihr außergewöhnlicher Kompositionsprozeß, durchdrungen von ihrer charismatisch-seherischen Kraft, folgt der Wahrnehmung des sonus in der visio, und die symphonia ist Abglanz dessen, was Hildegard in der visio glaubte zu hören. Hildegard übernimmt Elemente der Gregorianik, sprengt aber deren Rahmen. Der Tonumfang kann zwei Oktaven überschreiten. Insgesamt sind 77 Lieder und ein geistliches Singspiel überliefert. Die Sammlung der Lieder Hildegards ist äußerst bemerkenswert, weil sie für eine vergleichbare Sammlung eines namentlich bekannten Verfassers des 12. Jh. einmalig ist, abgesehen von Abaelard. Die Sprache Hildegards ist im Vergleich zur Lyrik des 12. Jh. ungewöhnlich. Sie ist eine mystische Symbolsprache und sprengt die Grenzen sprachlicher Formen. Sie gebraucht häufig Anapher, Superlative, konstruiert komplizierte Satzgefüge mit oft mehreren Partizipien und Genitiven. Ihre lyrische Sprache ist durchgehend von einem überschwänglichen Geist getragen, dadurch auch sehr eigenwillig. Das zeichnet ihre sehr persönliche Ausdrucksweise aus und unterscheidet sich wesentlich von der zeitgenössischen geistlichen Dichtung. 1148 bezeugt bereits der Pariser Magister Odo die Ursprünglichkeit bzw. Neuartigkeit ihrer Lieder: „Man sagt, daß Du, hochgehoben gen Himmel, viele Dinge siehst und vieles christlich hervorbringst, und daß Du auch viele neuartige Lieder erfindest, obwohl Dich niemand gelehrt hat.“ In den Jahren zwischen 1150-1160 fügten sich weitere Lieder zu dem Zyklus zusammen, der später „Symphonia harmoniae caelestium revelationum“ (Symphonie der Harmonie der himmlischen Offenbarungen) bezeichnet wird. Dieser umfaßt etwa 60 Stücke. Eine spätere erweiterte Fassung nahm noch Lieder zwischen 1163 –1173 auf (z.B. O quam mirabilis est, O virtus sapientie). Symphonia ist ein wesentlicher Schlüsselbegriff in Hildegards Werken. In Scivias ist er mehrdeutig. Er bezeichnet nicht nur den gemeinsamen Lobgesang menschlicher Stimmen und Instrumente, sondern meint vor allem die himmlische Harmonie und dessen Abglanz in der menschlichen Seele als Ausdruck des heiligen Geistes. Nach Hildegard ist die menschliche Seele „symphonisch“ und im musikalischen Vollzug zugleich irdisch wie himmlisch. Insofern die symphonia für das menschliche Ohr wahrnehmbarer freudiger Gesang der Himmelsbewohner ist, hat das eine läuternde Wirkung auf die Seele. Dieser Gesang ermöglicht schon jetzt an der zukünftigen Welt teilzuhaben. Mittels der Kraft der Musik also erfolgt die Wiederherstellung der harmonischen Bindung des Menschen im Universum. > Frank Wunderlich ist Autor diverser mittelalterlicher Notenbücher, die im Verlag der Spielleute erschienen sind. Er ist selbst auch als Interpret geistlicher und weltlicher Vokalmusik des Mittelatlers bekannt. |